Hausaufgabenbetreuung für Grundschulkinder mit Migrationshintergrund
Erfahrungen – Fortschritte – Rückschläge
Seit nunmehr ziemlich genau zehn Jahren bin ich u. A. mehrmals pro Woche in der Hausaufgabenhilfe für diese Kinder aktiv – Zeit, einmal Bilanz zu ziehen. Alles in Allem lässt sich zusammenfassend sagen, dass der frustrierenden Erfahrungen eindeutig viel mehr sind als der befriedigenden Erfahrungen. Dennoch – solange ich irgendwie kann, mache ich weiter.
Würde es sich um „normale“ deutsche Kinder handeln, könnte man sich fragen, wozu diese eigentlich Hilfe bei Hausaufgaben brauchen, zumal bei den Erstklässlern. Die sozialen Einrichtungen und Träger der Betreuung mögen das im Hinterkopf gehabt haben, wenn sie das Angebot einer solchen Betreuung ausschließlich an Kinder mit Migrationshintergrund gerichtet haben. Und bei diesen Kindern ist eigentlich alles drastisch unterschiedlicher als es bei Kindern deutscher Eltern der Fall ist.
Da ist zunächst die Herkunft der Kinder aus aller Herren Länder. Während der ersten Jahre meiner Tätigkeit waren es hauptsächlich türkische Kinder. Derzeit ist diese Nationalität bei den Kindern aber kaum noch vertreten, in der Mehrzahl sind Kinder mit afghanischem oder syrischem Hintergrund in der Betreuung. Konnten bis vor drei oder vier Jahren noch alle interessierten Kinder berücksichtigt werden, hat sich deren Anzahl danach bis jetzt – man muss schon sagen – potenziert. In der Betreuungsgruppe war Platz für 12 Kinder. Konnten früher alle untergebracht werden, gibt es jetzt schon Wartelisten, die länger sind als die Anzahl der tatsächlich einen Platz gefunden habenden Kinder.
Leider geht der Trend der Anzahl der erforderlichen Betreuer in die entgegen gesetzte Richtung. Überwiegend handelt es sich wie bei mir (Jahrgang 1954) um ältere Herrschaften, die nicht mehr ganz so stressresistent sind wie früher. Die Betreuer agieren strikt ehrenamtlich und erhalten nicht einmal eine „Aufwandsentschädigung“ außer einem Dankeschön-Essen am Ende des Jahres. Und mit der Flüchtlingsschwemme der letzten Jahre haben sich auch die Anforderungen an die Betreuer potenziert. Darüber möchte ich im Folgenden berichten.
Die Probleme sind so vielschichtig wie Herkunft und Schicksal der Kinder selbst. In unserer Gruppe sind derzeit ein paar Kinder, die noch nicht einmal drei Jahre in Deutschland sind. Sie müssten eigentlich eine sog. „Übergangsklasse“ besuchen, aber die sind längst überfüllt, es gibt keine Räume und keine ausgebildeten Lehrkräfte. Also steckte man diese Kinder zusammen mit den anderen in die Regelschule. Womit ein Problem für uns Betreuer bereits umrissen ist: Wie kann man Erstklässlern bei Leseübungen helfen? Sie haben Tafeln mit Bildchen und sollen sagen und schreiben, was das ist. Als Hilfe haben sie eine sog. Anlaut-Tabelle. Aber was soll man machen, wenn diese Kinder z. B. nicht wissen, was „Besen“ heißt?
Bei Leseübungen muss immer die Nachfrage von uns kommen „weißt du, was das ist?“ Z. B. „kuscheln“ – Nein! Oder Wörter wie „kriechen, taumeln, zittern, ...“ Wir erklären es den Kindern. Aber ob sie es behalten...
Dennoch, ich möchte hier ausdrücklich die an sich ungeheure Leistung der Kinder hervorheben. Fast alle können mehrere Sprachen fließend – einer z. B. arabisch, italienisch und jetzt etwas deutsch. Aber sprechen können heißt ja noch nicht auch verstehen können. Bei einer Mathe-Sachaufgabe (3. Klasse) wurde nach der Gesamtzahl der Bücher gefragt, wenn fünf Regale mit je zehn Büchern vorhanden sind. Antwort: „Na, zehn Bücher! Steht doch da“. Nun ja, die Bedeutung des Wörtchens „je“ zu erklären ist gar nicht so einfach. Wenn es gelungen ist, haben die Kinder aber die Aufgabe schon wieder vergessen. Wir Betreuer brauchen dann sehr viel Geduld, um vorzubeten, dass es ein Regal mit fünf Büchern gibt, dann noch eines und so weiter.
Langer Rede kurzer Sinn: Dieses zusätzliche Erklären einfachster Dinge, noch dazu mehr als einmal mit immer neuen Worten, erfordert sehr viel Geduld. Aber es ist jeweils ein einzelnes Kind. Es sind aber noch 11 weitere Kinder und außer mir nur noch ein oder zwei Betreuer da.
Ich frage mich, wie das die LehrerInnen der Grundschule schaffen. Sie stehen allein vor Klassen mit 23 bis 27 Kindern – und müssten auf diesen Umstand Rücksicht nehmen. Es sind aber natürlich auch deutsche Kinder in der Klasse, weshalb die LehrerInnen nicht zu langsam vorgehen dürfen – Kinder, die nicht verstehen, bleiben zwangsläufig auf der Strecke. Und gerade in meinem Wohnbereich gibt es sehr viele Kinder mit Migrationshintergrund – die dann einfach irgendwie mitschwimmen. Ich komme später in einem anderen Zusammenhang noch einmal auf diesen Punkt zurück.
Aber zurück zu uns Betreuern. Natürlich helfen wir den Kindern so gut es geht, aber es gibt mehrere weitere und teils grundlegende Probleme, die es bei deutschen Kindern in dieser Form nicht gibt. Es ist weniger als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, wenn wir zwar den Kindern zu helfen versuchen, wenn aber in ihrem privaten Umfeld die Unterstützung gleich Null ist. Die Eltern der Kinder interessiert offenbar nicht, wie sich ihre Kinder machen. Und viele Kinder nehmen die Hausi-Hilfe auch nicht ernst. Man kümmert sich zu hause in keiner Weise um den schulischen Fortschritt, und die Kinder fangen im Prinzip bei jeder neuen Betreuung wieder bei Null an. Das ist sehr frustrierend, zumal die wenigen Ausnahmen (die es zum Glück gibt!) eigentlich nur die Regel bestätigen. Der Kontakt zu den Eltern wäre dringend geboten, für Lehrer und Betreuer gleichermaßen. Das geht aber nicht, denn die meisten Eltern können kein Wort deutsch. Sie können ihren Kindern nicht helfen, selbst wenn sie wollen. Aber diese Eltern haben andere Probleme – Behörden, Unsicherheit, Ängste vor dem Neuen...
Es ist diese scheinbare Sinnlosigkeit, die mehrere meiner Betreuer-KollegInnen inzwischen zum Aufgeben gebracht haben. Dass natürlich der Stress durch die o. g. Punkte dazu kommt, liegt auf der Hand.
Weitere Probleme: einige Kinder, vor allem aus Afghanistan, müssen auf ihrer Flucht Furchtbares gesehen haben und sind traumatisiert. Das ist zwar nicht vordergründig, aber wir dürfen z. B. eines der Kinder nicht mit dem Rücken zur Tür setzen. Es gerät jedes Mal in Panik, wenn wir es tun und jemand hereinkommt. Andere Traumatisierungen sind noch subtiler – und wir BetreuerInnen haben keinerlei Ausbildung, damit umzugehen. Mit anderen Worten: wir geben in dieser Hinsicht auf. Alles, was wir tun können, ist zu versuchen, die schulische Leistung der Kinder zu verbessern.
Und noch etwas kommt hinzu, exemplarisch geworden mit dem Beginn des sog. „Ramadan“ - nämlich der ihnen von ihren Eltern aufoktroyierten Anspruchshaltung, dass wir Einheimische die Rituale und Besonderheiten des Islam zu berücksichtigen haben. Das ist angesichts der Leistungen der Betreuer (und auch aller LehrerInnen!) äußerst frustrierend!
Fazit: So schaffen wir es garantiert nicht!!
Ich könnte dieses Lamento noch lange fortsetzen, aber...
Wenn man sich all das vor Augen führt, erhebt sich natürlich die Frage, warum – und jetzt rede ich nur von mir selbst – ich mich diesem Stress weiter aussetze und weiter aussetzen werde. Wer ein wenig auf meiner Website surft, wird verstehen, wie sehr mir Kinder am Herzen liegen. Dabei habe ich gar nicht so pathetische Gedanken wie „Kinder sind unsere Zukunft“ o. Ä. (Auch dazu später noch etwas). Sondern es ist etwas Anderes: kaum sehen mich die Kinder, kommen sie freudig angerannt, umarmen mich und drängen sich um mich. Das ist herzerwärmend bis zum Anschlag! Ich bleibe dabei zwar völlig passiv (wir leben schließlich in hysterischen Zeiten), aber die Dankbarkeit und Zuneigung dieser Kinder bedeutet mir mehr als jede Bezahlung es tun könnte. Und außerdem gibt es über allem die sprichwörtlichen „Rosinen im Kuchen“, die jeden Einsatz wert sind.
Und damit möchte ich zu einem Aspekt außerhalb meines Wirkungsbereiches kommen. Ich habe oben beschrieben, warum die meisten Kinder in der Schule gar nicht mitkommen können. Für sie bleibt nach der Grundschulzeit nur die Mittelschule (früher Hauptschule). Es gibt eine solche in meinem Wohnbereich, und dort gibt es inzwischen Klassen mit einem Migrationsanteil bis 70% (!). Dort ist die Flüchtlingswelle inzwischen angekommen. Die Klassen sind heillos überfüllt, und die Probleme die gleichen wie in der Grundschule. In vier oder fünf Jahren haben die ersten Massen die Schulzeit absolviert – aber was dann? Wie sollen diese Kinder, die dann allmählich zu Erwachsenen werden, jemals in die deutsche Gesellschaft, in den Arbeitsmarkt integriert werden? Kommt da nicht eine soziale Katastrophe ungeahnten Ausmaßes auf uns zu? Was machen Heerscharen hoffnungsloser Jugendlicher, wenn sie später nirgendwo Anschluss finden? Sind zivile Unruhen da nicht schon vorprogrammiert?
Ich gestehe, ich fürchte mich davor. Aber ich sehe es philosophisch (etwas Anderes bleibt mir auch gar nicht übrig):
„Erwarte nichts! Heute, das ist dein Leben“.
Oder mit Martin Luther:
„Und wenn ich auch wüsste, dass morgen die Welt untergeht, so würde ich doch heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!“
Ich bin also das Apfelbäumchen!
© Chris Frey, Mai 2018
Chris Frey (Sonntag, 22 September 2019 09:07)
[Hier hat Herr Dr. Roland Ullrich einen längeren Kommentar gepostet, der sich jedoch mehr mit der allgemeinen Lage als mit der Hausi-Hilfe selbst befasst. Er steht jetzt in der Rubrik „Fremdbeiträge“.
Chris Frey]